„Phänomenologie als spezifische Einstellung zur Welt“
Interview mit Thiemo Breyer zur Relevanz des Forschungsansatzes
von Lars Juschka
Das a.r.t.e.s. Research Lab beschäftigt sich mit den beiden thematischen Schwerpunkten „Transformation of Knowledge“ und „Transformation of Life“. Entsprechend dem interdisziplinären Ansatz der Graduiertenschule werden diese Transformationsprozesse mit einer Reihe von unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und Zugängen untersucht, zu denen auch die Phänomenologie zählt. Im Gespräch mit a.r.t.e.s.-Juniorprofessor Thiemo Breyer stellen wir euch diesen Forschungsansatz sowie seine Relevanz für die Arbeit im Research Lab vor.
a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne: Lieber Thiemo, was ist Phänomenologie und wo ist sie in der Ideengeschichte zu verorten?
Jun.-Prof. Dr. Thiemo Breyer: Die Phänomenologie ist eine philosophische Bewegung, die sich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts Bahn bricht und im 20. Jahrhundert bis heute zu einer der produktivsten und wichtigsten philosophischen Strömungen geworden ist. Unabhängig von der realgeschichtlichen Entwicklung ist sie eine spezifische Einstellung zur Welt, die alles was uns im Bewusstsein erscheint, zunächst einmal unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie es erscheint. Dabei sollen alle persönlichen, konventionellen oder dogmatischen Vormeinungen darüber, wie die Welt beschaffen ist, ja sogar darüber, ob sie unabhängig von unserer Erfahrung existiert, eingeklammert werden. Hiervon erhoffte sich der Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, einen unverstellten Blick auf die Strukturen der Erfahrung und des Bewusstseins und begann, systematisch zu analysieren, welche Formen von Bewusstsein und welche möglichen Bewusstseinsgegenstände es gibt. Um ein Beispiel zu geben: Wir können einen einfachen Gegenstand wie einen Tisch direkt wahrnehmen, wenn er vor uns steht. Wir können uns den Tisch aber auch mit geschlossenen Augen vorstellen. Oder wir können uns morgen an ihn erinnern. Wahrnehmen, phantasierendes Vorstellen und Erinnern sind drei Möglichkeiten, wie ein Gegenstand im Bewusstsein erscheinen kann, und jede dieser sogenannten „intentionalen“ Bezugnahmen hat seine eigentümlichen Merkmale.
Die Beschäftigung mit phänomenologischen Ansätzen und Fragestellungen ist eine Konstante in deiner Karriere – wie bist du mit dem Thema in Berührung gekommen?
Große Teile meines Studiums absolvierte ich in Freiburg, eigentlich dem Mekka der Phänomenologie, wo Husserl viele Jahre lehrte und wo Heidegger dann die Phänomenologie in eine ganz andere Richtung lenkte. Diese Jahre, vor allem die Mitarbeit am dortigen Husserl-Archiv, waren für mich sehr prägend. In dieser Zeit konnte ich am Husserl-Lexikon mitarbeiten, das bei der WBG erschienen ist, und auch schon erste Lehrerfahrung sammeln. Im Kontext eines gemeinsamen Projekts zwischen dem Husserl-Archiv und dem Center for Cognitive Science entstand dann auch meine Dissertation zur Wahrnehmungstheorie. Danach war ich Assistent am Karl-Jaspers-Lehrstuhl für Philosophie und Psychiatrie in Heidelberg, wo ich die phänomenologischen Interessen mit Blick auf die Psychologie und Psychopathologie weiterentwickeln konnte.
Wie kam es dann dazu, dass die Phänomenologie zu einem Forschungsschwerpunkt des Research Lab wurde? Und wie wirkt sie sich auf eure Arbeit aus?
Zunächst einmal dadurch, dass mein erster Mitarbeiter Emanuele Caminada, der inzwischen an die KU Leuven gewechselt ist, und ich beide Phänomenologen sind und entsprechend unseren Input in die gemeinsamen Diskussionen im Research Lab eingebracht haben. Dabei hat sich gezeigt, wie hilfreich phänomenologische Betrachtungsweisen für interdisziplinäre Fragestellungen, insbesondere für die Sozial- und Kulturwissenschaften sein können. Das hat auch schon eine lange Tradition: So hat sich eine phänomenologische Soziologie im Ausgang von Autoren wie Alfred Schütz und Aron Gurwitsch entwickelt, und auch wenn man sich die gegenwärtigen Diskussionen der Kulturwissenschaften um Agency und Materialität ansieht, wird die Phänomenologie mehr und mehr zu einem wichtigen Gesprächspartner. An unserem Standort zeigt sich das insbesondere in den Diskussionen mit unseren Assoziierten Partnern, etwa vom SFB 806 „Our Way to Europe“ oder dem „Global South Studies Center“. Ein aus meiner Sicht entscheidendes Merkmal der Phänomenologie im interdisziplinären Zusammenhang ist der deskriptive Ansatz, der in unterschiedlichsten Objektbereichen angewandt werden kann: in der Betrachtung von Körper- und Kulturtechniken, symbolischen Systemen und Interaktionsnetzwerken. Wichtig scheint mir auch die methodische De- und Rekonstruktion fachlich bedingter Vorverständnisse, auf deren Grundlage ein Dialog überhaupt erst sinnvoll geführt werden kann.
Welche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Research Lab forschen sonst in diesem Bereich?
Inzwischen sind hoffentlich schon alle ein bisschen auf den Geschmack gekommen oder haben zumindest keine Berührungsängste mehr, auch wenn zugegebenermaßen die terminologische Sprache erstmal abschreckend wirken kann. Um ein paar Aktivitäten im Research Lab herauszugreifen: Johannes Schick organisiert federführend unsere interdisziplinäre Sommerschule „Cologne Summer School of Interdisciplinary Anthropology“, die CSIA, die dieses Jahr schon in die dritte Runde geht. Hier machen wir uns über die „Phänomenalität materieller Dinge“ Gedanken, so dass natürlich eine phänomenologische Analyse nicht ausbleiben kann. Des Weiteren sind Marie Louise Herzfeld-Schild und ich dabei, am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld, wo wir beide Fellows sind, eine AG zum Thema „Geschichte der Emotionen“ zu gründen, um unsere Kölner Forschungen noch breiter zu diskutieren. Mein derzeitiger Mitarbeiter Erik Dzwiza schreibt gerade seine Dissertation fertig, die sich von Husserl ausgehend mit Fragen der Lebenswelt und der Sprachphilosophie befasst. Und mit David Sittler organisiere ich gemeinsam die Ringvorlesung im Sommersemester 2017 zum Thema „Was ist Anthropologie?“ In diesem Rahmen wird in ein oder zwei Vorträgen auch die Philosophische Anthropologie und ihr spannungsvolles Verhältnis zur Phänomenologie thematisiert.
Äußert sich die Bedeutung der Phänomenologie auch in Projekten oder Veranstaltungen des Research Lab insgesamt?
Ein Projekt, das sozusagen phänomenologie-intern läuft, ist die Vorbereitung und Herausgabe eines Handbuchs Phänomenologie, das 2018 erscheinen wird und das erste seiner Art in deutscher Sprache ist. Hier wird die phänomenologische Tradition anhand zentraler Konzepte sowie aktueller interdisziplinärer Wirkfelder aufgearbeitet und auch für Studierende leserfreundlich präsentiert. Die Kooperation zwischen Phänomenologie und Praxistheorie, wie sie insbesondere von unseren ethnologischen Kollegen im Research Lab unter Federführung von Martin Zillinger vertreten wird, besteht schon seit 2014 und wird weiter durch gemeinsame Workshops intensiviert. Außerdem gibt es seit dem Sommersemester 2016 ein Forschungsprojekt zur historischen Emotionsforschung, in dem ästhetische (v. a. musikwissenschaftliche) und phänomenologische Fragestellungen zu Affektivität, Emotionalität, Stimmungen und Atmosphären verbunden werden.
Wir danken Thiemo Breyer für das Gespräch!