Die Edition im 21. Jahrhundert
Stipendiatin Tessa Gengnagel forscht beim a.r.t.e.s.-Kooperationspartner DiXiT
von Lars Juschka
Wie hat sich das chinesische Durchschnittseinkommen seit 1990 entwickelt? Wann genau starb Heinrich VI. noch gleich? Fragen wie diese hätten noch vor wenigen Jahren einen Trip in die Bibliothek oder zumindest einige Regalmeter Brockhaus und Fachlexika nötig gemacht. Heute sind sie durch computergestützte Datenverarbeitungsverfahren nur wenige Klicks entfernt. Suchmaschinen, Datenbanken und Hypertexte haben in vielen Bereichen des Lebens die Organisation von Wissen von Grund auf revolutioniert. Kein Wunder also, dass in den Geisteswissenschaften seit einigen Jahren der Bereich der „Digital Humanities“ floriert.
Beim Digital Scholarly Editions Initial Training Network (DiXiT), einer der Partnerorganisationen von a.r.t.e.s., befasst sich Stipendiatin Tessa Gengnagel mit der Frage, wie sich die Potentiale dieses technischen Fortschritts für wissenschaftliche kritische Editionen nutzbar machen lassen. DiXiT ist eine EU-geförderte Kooperation von 10 Partneruniversitäten aus ganz Europa, sowie 18 weiteren assoziierten Mitgliedern inklusive der a.r.t.e.s. Graduate School. Die Koordination obliegt der Universität zu Köln.
Ein Balanceakt zwischen Tradition und Innovation
Für Gengnagel und ihre Kolleginnen und Kollegen bei DiXiT ist es wichtig, beim technischen Fortschritt stets den Anschluss an die jahrhundertelange erfolgreiche Tradition der Editionswissenschaften zu wahren – ein Balanceakt, der sowohl Bewahrerinnen und Bewahrern als auch Innovatorinnen und Innovatoren mitunter schwer fällt: „Ich persönlich habe schon sowohl Skepsis, als auch freudiges Interesse erlebt; mal berechtigt, mal unberechtigt. Die Digital Humanities rufen ja sowohl übertriebene Euphorie als auch gewisse Abwehrreaktionen hervor. Ich kann verstehen, wenn da immer mal wieder der Eindruck einer voreiligen Kritik am Status Quo entsteht. Aber darum geht es meines Erachtens nicht“, erklärt Gengnagel. Vielmehr hätten Editionsherausgeberinnen und -herausgeber schon immer neue Technologien genutzt – etwa den zweispaltigen Druck zur Umsetzung synoptischer, also vergleichender Darstellung.
In vielen Editionsprojekten wird heute technisches Wissen, das traditionellerweise etwa in einem Informatikstudium vermittelt würde, in Verbindung mit der jeweiligen geisteswissenschaftlichen Fachkompetenz gefordert. Bisher sind jedoch nur wenige Personen in allen relevanten Aspekten ausgebildet. „Im Grunde gab es zu keinem unserer Forschungsprojekte Bewerber, die auf dem Gebiet bereits Spezialisten gewesen wären. Doch durch die Arbeit wurden unsere Fellows nach und nach zu solchen.“ In den Digital Humanities arbeiten also Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler mit Technikinteresse und Technikerinnen und Technikern mit Interesse an Geisteswissenschaften Hand in Hand. Tessa Gengnagel: „Da gibt es ganz eigene Diskurse. So stellt man zum Beispiel oft fest, welch unterschiedliche Vorstellungen es alleine von einem Konzept wie ‚Text‘ geben kann. Viele Diskussionen drehen sich dann um ganz fundamentale Unterschiede bei Begriffsverständnissen – denn darauf fußt ja, wenn man so will, ein ganzes Weltbild.“ Auch wenn diese Hürden „nicht immer zu überwinden“ sind, so ist es bei DiXiT gelungen, schnell eine gemeinsame Sprache zu finden.
Mitforschen erwünscht!
Auch Gengnagel selbst wusste zu Beginn ihres Studiums „noch gar nichts von der Existenz eines Fachbereiches namens Digital Humanities“, sondern studierte zunächst ganz klassisch Mittellatein in Freiburg. Über einen Master am Institut für Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung (HKI) in Köln und einen Aufenthalt in Graz, einem der österreichischen Zentren in Sachen Digital Humanities, rückten dann jedoch zunehmend digitale Editionen in ihren Blickpunkt. „Im Nachhinein hat es schon fast eine gewisse Zwangsläufigkeit“, stellt sie im Rückblick fest. Da die digitale Editionsforschung noch am Anfang stehe, sei die Umsetzung in manchen Projekten problematisch: Zeit und Gelddruck bereiten der Grundlagenforschung bisweilen schwierige Bedingungen. „Insofern bin ich sehr froh über mein a.r.t.e.s.-Stipendium, das mir wirklich die Freiheit verschafft, an einem rein theoretischen Thema zu arbeiten“, sagt Gengnagel.
Mit wenigen Ausnahmen wie jenen am HKI gibt es bisher kaum Studiengänge, die den Fokus gezielt auf die Digital Humanities legen. Vielleicht, vermutet Gengnagel, herrsche noch zu wenig Bewusstsein über das Potential, denn in vielen Projekten würden immer wieder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit entsprechenden Kenntnissen und Fertigkeiten gesucht. Auch hier möchte DiXiT ansetzen, um, wie Gengnagel betont, „hoffentlich einen systematischen Beitrag zur Ausbildung einer neuen Forschergeneration zu leisten“, die ihre Erfahrung später als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren weitergeben kann.
Wir danken für das Gespräch! Für Fragen zum Thema steht Tessa Gengnagel gerne zur Verfügung.