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„Der interdisziplinäre Blick auf multipolare Dynamiken“

Evelyn Buyken über Schnittstellen von musikalischer Praxis und Wissenschaft

von Julia Maxelon

Bild: Norbert Berghaus

Evelyn Buyken ist ehemalige Stipendiatin im a.r.t.e.s. Integrated Track und hat über die „Bach-Rezeption als kulturelle Praxis zwischen 1750 und 1829 in Berlin“ promoviert. Neben der Wissenschaft lebt und pflegt die Musikhistorikerin jedoch noch eine zweite Liebe: die zur musikalischen Praxis und zu ihrem Instrument, dem Cello. Parallel zu ihrem Studium der Schulmusik und Germanistik an der Universität zu Köln studierte Evelyn Buyken Viola da Gamba und Barockvioloncello an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Und auch während ihrer Promotionsphase ruhten ihre musikpraktischen Tätigkeiten nicht: Sie gründete 2010 das Cölner Barockorchester mit und konzertiert seitdem mit dem Ensemble im In- und Ausland. Seit März 2016 ist Evelyn Buyken Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Max Bruch-Archiv, das dem Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln angegliedert ist. Wir haben mit ihr über ihr Leben in und zwischen den beiden Welten von musikalischer Praxis und Theorie gesprochen.

 

a.r.t.e.s. Graduate Schoool: Liebe Evelyn, du bist in der Musikwissenschaft wie der Musikpraxis gleichermaßen zu Hause. Was bedeutet es dir, dich in beiden Feldern gleichermaßen zu bewegen?

Evelyn Buyken: Ich habe meine breite Ausrichtung bisher als große Bereicherung wahrgenommen. Ich glaube, dass sie ein ganz wichtiger Teil meines Profils ist: Ich denke einerseits die Wissenschaft viel aus der Praxis heraus und gehe andererseits die Praxis – etwa die Organisation und Planung von Konzerten – verstärkt aus Sicht der Wissenschaft an. Gerade wenn in der Praxis konkrete inhaltliche Fragen auftauchen – zu den Komponistinnen und Komponisten, zum Stand der Forschung oder zur Frage, welche Affekte berührt werden –, denke ich sehr stark aus der Musikwissenschaft heraus. Ich versuche, die beiden Bereiche zu verbinden bzw. das eine durch das andere zu ergänzen.

 

Hast du das Gefühl, dass dich dein wissenschaftlicher Hintergrund von deinen Kolleginnen und Kollegen unterscheidet?

Ich trenne meine wissenschaftliche Arbeit deutlich von der Spielpraxis: Wenn ich spiele, bin ich Musikerin durch und durch, dann stelle ich meinen Kopf aus und spiele mit all der Erfahrung und Ausbildung, die ich als Musikerin genossen habe. Aber im ganzen Musikbetrieb, der uns umgibt, brauchen Musikerinnen und Musiker heutzutage musikhistorisches Wissen. Auf dem Gebiet der Historischen Aufführungspraxis gibt es kaum feste Stellen, die einen finanzieren können – hier müssen wir uns vermarkten können. Wir müssen gute Dramaturginnen und Dramaturgen sein und im Grunde Musikvermittlung betreiben. Den Beruf der Musikerin oder des Musikers im Sinne von „Ich trete auf die Bühne und spiele“ gibt es eigentlich kaum noch: Ich bin diejenige, die mich auf die Bühne bringt. Ich muss ein gutes Konzept haben, das Intendantinnen und Intendanten überzeugt. Und ich muss mit mir selbst im Gespräch sein: Was möchte ich musikalisch sagen, wie ist mein Ausdruck, wie funktioniere ich zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen als Ensemble? Das sind alles Fähigkeiten, die ich auch aus meiner musikwissenschaftlichen Betätigung heraus ziehe.

 

Du bewegst dich sowohl mit deiner Forschung wie auch mit deiner Praxis auf dem Gebiet der sogenannten Alten Musik, also der Musik vor ca. 1750. Würdest du sagen, dass sich Theorie und Praxis dort besonders gut verbinden lassen? Ist die Alte Musik vielleicht besonders forschungsnah?

Ja, das würde ich definitiv sagen, weil im 18. Jahrhundert eben noch keine starre Trennung zwischen Musikpraxis auf der einen Seite und Musikwissenschaft auf der anderen Seite vorherrschte. Die Komponistinnen und Komponisten und die Interpretinnen und Interpreten kannten diese Trennung noch nicht. Ich kann zum Beispiel die Cellosonaten von Francesco Geminiani nur begreifen, wenn ich auch seine Violinschule und seine Ausführungen zur Verzierungstechnik kenne – und damit bin ich automatisch an der Schnittstelle. Wenn ich wiederum Musik des späten 19. Jahrhunderts erforsche, dann ist die Trennung zwischen Musik als Praxis und Musik als Wissenschaft dort ganz offensichtlich zu spüren.

Ich glaube, dass sich die Frage, welche Relevanz die musikalische Praxis für das Verstehen von musikalisch-historischen Phänomenen hat, auf viele Bereiche übertragen lässt. Praxis als methodischer Zugriff wird zur Zeit innerhalb der Kulturwissenschaft gestärkt, gerade die Rolle der Interpretinnen und Interpreten, etwa in den Performance Studies. Unter „Artistic Research“ wird eine Forschungsrichtung verstanden, die künstlerische Prozesse verstärkt in den Mittelpunkt rückt und die Musikerfahrung von Musikerinnen und Musikern in Momenten der Musikaufführung als Zugang zur Erforschung eines Musikwerks betrachtet. Ich begreife mein praktisches Wissen als weitere methodische Schärfung, um das, was in historischen Quellen vermittelt wird, besser zu verstehen. Ich versuche wie die Ethnologen – nur aus der historischen Distanz heraus – den Interpretinnen und Interpreten über die Schulter zu blicken

 

Würdest du sagen, dass Dir das interdisziplinäre Umfeld bei a.r.t.e.s. geholfen hat, in Musikwissenschaft und Musikpraxis gleichermaßen aktiv zu bleiben?

Ja, in jedem Fall, weil ich gemerkt habe, dass die vermeintlichen Grenzen zwischen diesen beiden Bereichen gar nicht präsent oder ausschlaggebend waren für die Diskussion meiner Forschung. Im Gegenteil, es gab immer eine große Offenheit von allen Seiten für Grenzüberschreitungen und interdisziplinäres Denken. In einem Projekt wie dem a.r.t.e.s. kunstfenster etwa werden derartige Übergange thematisiert: Kunst als Praxis tritt den Kunstwissenschaften gegenüber, es wird immer wieder zwischen den Perspektiven gewechselt.

In der Diskussion mit meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen in der interdisziplinären Graduiertenklasse habe ich allerdings oft große Differenzen in der Bewertung verschiedener Quellen und Methoden festgestellt. In den Medienwissenschaften etwa hat der theoretische Überbau eine extreme Bedeutung, z. B. in den Performance Studies mit dem sogenannten „Practical Turn“. Ich habe unterschiedliche Auffassungen zwischen den Disziplinen aber nicht als Hindernis, sondern als Inspiration wahrgenommen, und während dieser Zeit festgestellt, dass meine historischen Quellen und mein praktisches Wissen enorm viel Potential haben.

Nicht zuletzt habe ich bei a.r.t.e.s. auch die Offenheit dafür kennengelernt, Familie und Job miteinander zu verbinden, was mir den Mut gegeben hat, Wissenschaft und Praxis auch mit Kindern weiterhin gleichermaßen zu verfolgen. Das ist ein enorm wichtiger Punkt: die Offenheit der Graduiertenschule, beispielsweise Kinder auf Forschungsexkursionen mitzunehmen oder eine finanzielle Unterstützung zu bekommen. Wichtig war für mich auch, in anderen Stipendiatinnen und Stipendiaten Vorbilder zu haben, die Familie nicht als Hinderungsgrund sehen. Diese Pluralität der Arbeits- und Lebenswege habe ich bei a.r.t.e.s. kennengelernt und als Vorbild genommen. Die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Praxis und Familie bleibt trotzdem immer eine Herausforderung.

 

Inwiefern helfen dir deine verschiedenen Erfahrungen bei deiner heutigen Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Max Bruch-Archiv?

Die Stelle, die ich seit März 2016 im Max Bruch-Archiv habe, ist darauf ausgerichtet, das Archiv zu koordinieren und einen Onlinekatalog zu erstellen, der für die Wissenschaft zugänglich gemacht werden soll. Außerdem bin ich dort wie alle anderen Postdoktorandinnen und Postdoktoranden auch in anderen thematischen Projekten involviert. Ich plane beispielsweise momentan mein eigenes Habilitationsprojekt und schreibe Aufsätze. Für das Archiv katalogisiere ich Quellen aus dem 19. Jahrhundert und stelle sie der Forschung zur Verfügung. Bisher wurde der Katalog stark werkzentriert geführt – ich versuche dagegen, den kulturwissenschaftlich orientierten Ansatz zu stärken. Darüber hinaus entdecke ich aus der praktischen Erfahrung als Musikerin heraus neue Metaerzählungen, wie beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen den Interpretinnen und Interpreten und den Komponistinnen und Komponisten. Es ist zum Beispiel unglaublich spannend, wie in den Quellen das Thema ‚Üben‘ verhandelt wird: Üben ist eine Praktik von Musikerinnen und Musikern, die in den Alltag gehört und die noch wenig erforscht wurde. Und doch taucht sie in Briefen ständig auf: es geht um Fragen von Tempi und Virtuosität. Das sind Metaerzählungen in der Musikgeschichte, die wieder spürbar werden, und meinen geschärften Blick für diese Dynamiken entnehme ich definitiv meiner interdisziplinären, quasi multipolaren Ausbildung.

 

Wenn du auf alle Bereiche von Wissenschaft und Praxis blickst, in denen du bisher gearbeitet hast: Wo siehst Du deine Zukunft?

Ich sehe mich in einer Musikwissenschaft, die offen ist für die Erforschung und Nutzbarmachung der musikalischen Praxis für die Wissenschaft und die in der Forschung wie auch in der Lehre stark mit Interpretinnen und Interpreten zusammenarbeitet. Eine Musikwissenschaft, die immer wieder einen künstlerischen Bezug hat und in der ich den Freiraum habe, mich nicht für eins von beiden entscheiden zu müssen.

Ich bemerke, dass sich im universitären Rahmen viel entwickelt. Universitäten öffnen sich durch neue Kooperationen anderen Institutionen, wie sich etwa bei der Zusammenarbeit zwischen der Hochschule für Musik und Tanz Köln mit dem Zentrum für Alte Musik in Köln oder zwischen dem Beethovenfest in Bonn und der Kölner Universität zeigt. Hier stellen sich Musikvermittlungsfragen, die durch wissenschaftliche Erkenntnisse gespiegelt werden. Wir alle arbeiten im Endeffekt an denselben Fragen. Das Empfinden dafür ist meiner Meinung nach notwendig, damit Universitäten weiterhin ihre Durchlässigkeit zu anderen gesellschaftlichen Kontexten behalten und damit sie die Bedeutung ihrer Forschung für die Gesellschaft nicht aus dem Blick verlieren.

 

Veröffentlichungen von Dr. Evelyn Buyken:

Monographien:

Bach-Rezeption als kulturelle Praxis (=Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft), Stuttgart: Franz Steiner Verlag (Publikation in Vorbereitung).

Passions. Leid und Leidenschaften in der Musik um 1800, als Herausgeberin mit C. Bebermeier und G. Finke, Würzburg: Königshausen & Neumann (Publikation im Druck).

Zeitschriften/Bände:

Musikalische Praxis, Gender und Politik oder wie kritisch sind die musikalischen Karikaturen James Gillrays?, in: Melanie Unseld (Hg.), The Delights of Harmony. James Gillray und die Musik in englischen Salons um 1800, Köln: Böhlau (Publikation im Druck).

Zwischen Leid und Leidenschaft. Die Passionen J.S. Bachs im Spiegel ihrer zeitgenössischen Rezeption, in: Passions. Leid und Leidenschaften in der Musik um 1800, hg. mit C. Bebermeier und G. Finke, Würzburg: Königshausen & Neumann (Publikation im Druck).

In memoriam Johann Sebastian Bach – Sara Levy und die Bacherinnerung zwischen 1750 und 1829 in Berlin, in: VivaVoce. Frau und Musik, Nr. 92, Frankfurt am Main: 2012, S. 11–12.

Tagungsbericht zum Symposium „Bach: Genius, Genus, Generationen“ im Mai 2013, in: Konstruktionen von Aggressivität und Gender in der populären Musik (=Jahrbuch: Musik Gender 7) hg. von Florian Heesch, Hildesheim: Olms (Publikation im Druck).

Diskographie:

Towards Heaven – Dem Himmel entgegen (Musik von Georg Muffat, Carl Rosier, Georg Philipp Telemann und Élisabeth Jacquet de la Guerre) eine Aufnahme mit dem Cölner Barockorchester, Coviello Classics, April 2016.