skip to content

Forschungsprojekt von Dr. Bernhard Hollick

„Ovid und die Oxford Calculators: Dichtung und Wissenschaft im spätmittelalterlichen England“

Bei der Lektüre scholastischer Literatur aus dem spätmittelalterlichen England (ca. 1300–1425) fällt auf, in welchem Maße sich Oxforder Gelehrte wie Thomas Bradwardine oder Robert Holcot auf antike Dichter als wissenschaftliche Autoritäten stützen. Insbesondere Ovid wird in Werken wie Bradwardines De causa Dei in einem Atemzug mit Euklid, Plinius und Aristoteles genannt. Eben jene Generation von Theologen und Physikern, die maßgeblich zur Etabilierung einer mathematischen Naturbetrachtung beitrug, entdeckte auch die Bedeutung poetischer Wahrheit im wissenschaftlichen Kontext wieder. Die Rezeption und Produktion von Dichtung diente als Methode zur Theoriebildung und Wissenvermittlung. Das Projekt soll aufzeigen, wie poetisches und physikalisch-mathematisches Denken in der englischen Spätscholastik zu einer neuen Einheit zusammenfanden. Da das Bildungs- und Patronagesystem eine prägende Rolle spielte, müssen auch historische und wissen(schaft)ssoziologische Ansätze einbezogen werden. Insofern handelt es sich auch um ein methodisches Experiment, das philologisches Arbeiten und theoretische Fragestellungen zu verbinden versucht.

Um die Interaktion von Poesie und Scholastik im England des 14. Jahrhundert zu erklären, ist es nötig, die zugrundeliegenden Transformationsprozesse genau zu untersuchen. Diese sind sowohl historischer als auch literarischer Natur: Zunächst bedeutet es immer eine Transformation, wenn ein antiker Text im Spätmittelalter neu ausgelegt wird: Kontext, Intention und hermeneutische Strategien sind gänzlich verschieden. Gleichzeitig vollzieht sich ein Wechsel zwischen narrativ-allegorischem und logisch-argumentativem Denken. Dieser Prozess ist nicht einseitig, d.h. entweder eine auf wissenschaftliche Erkenntnis ausgelegte Interpretation von Dichtung oder die Vermittlung von Wissen in poetischer Form. Vielmehr verläuft er reziprok, wie das Gedicht Theorica numerorum und die mit ihm verbundenen Texte besonders deutlich zeigen: hier ist der kontinuierliche Wechsel zwischen Lehrgedicht, Fachprosa und Zahlenkampfspiel beabsichtigt. Das Zusammenspiel dieser Register bedarf aber einer differenzierenden Betrachtung, ist es doch von der (nicht zuletzt durch den sozialen Kontext determinierten) Funktion der Texte abhängig.