zum Inhalt springen

Projektbeschreibung

Die Geistes- und Kulturwissenschaften beschäftigten sich in den letzten Jahren insbesondere mit zwei theoretischen turns: mit dem material turn und dem practice turn, die unter anderem in der Akteur-Netzwerk-Theorie zu einer Heuristik wissenschaftlichen Arbeitens zusammengeführt wurden.

Die Symmetrisierung menschlicher und nicht-menschlicher Elemente als Träger von Handlungsinitiative hat den Blick für die sozio-technische Gestaltung von Handlungszusammenhängen (agencements) geschärft und wichtige Impulse für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Natur-, Geistes- und Kulturwissenschaften geliefert. Damit einher geht eine Neubestimmung des Verhältnisses von Dingen, Zeichen und Menschen, die Gegenstand heftiger wissenschaftlicher Kontroversen. Ein zentrales Forschungsdesiderat dieser Kontroverse ist die epistemologische und  anthropologische Frage nach der Bedeutung von Dingen und Materialität für die Konstitution des Menschen und menschlicher Praxis einerseits und der Phänomenalität der materiellen Dinge andererseits. Auf der Sommerschule wird diese Kontroverse entlang der Theoriefelder Praxis, Genese und Kognition aufbereitet und aus der Perspektive dreier Leitwissenschaften weitergeführt werden:

(1)           Die Ethnologie widmet sich der Beschreibung und Erforschung von Praxiszusammenhängen auf Grundlage materieller und nicht-materieller Objekte.

(2)           Die Archäologie rekonstruiert anhand von Artefakten Praktiken, um Aussagen über den Menschen in seiner historischen Umwelt treffen zu können.

(3)           Die Philosophie stellt in ihrer Auseinandersetzung mit den Kognitionswissenschaften die Frage nach den kognitiven Voraussetzungen des Umgangs mit den materiellen Dingen und den Effekten, die diese Praxis hervorruft.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Archäologie, Ethnologie und Philosophie ist in den letzten Jahren im Rahmen von a.r.t.e.s. und Morphomata vielfach erprobt worden und kann in besonderem Maße die Frontstellungen von Praxistheorie und Kognitionswissenschaften produktiv aufzugreifen, um anhand der systematischen Frage nach der Phänomenalität der materiellen Dinge eine konkrete, interdisziplinäre Anthropologie zu entwickeln. Die jeweiligen Begriffe bzw. Phänomene sind so ausgewählt, dass sich in ihnen die Methoden und Perspektiven der jeweiligen Disziplinen durchdringen:

·         Praxis: Der Königsweg ethnologischer Forschung, die teilnehmenden Beobachtung, wirft die zentrale Frage aller empirischen Forschungen auf, wie sich ethnographische Praktiken auf die von ihnen untersuchten Praktiken beziehen (sollen), wenn sie Teil der Praxis des Feldes werden und führt dadurch in die Kontroversen über die wissenschaftliche Repräsentation von Praxis ein. Weitere Elemente aus dem jüngsten practice turn können aus dem Bestand der Ethnologie für eine praxistheoretische Debatte fruchtbar gemacht werden, so etwa der Fokus auf orts- und situationsbezogene Untersuchungen, die Aufmerksamkeit für die temporale Sequenzierung, und die Materialität und kollektive Hervorbringung sozialen Handelns. Die Arbeiten von Marcel Mauss bieten hierfür den ersten theoretischen Ausgangspunkt und sollen um die Perspektiven der Ethnomethodologie Harold Garfinkels ergänzt werden. Der methodische Imperativ der Ethnologie, „Follow the Natives“, und die Garfinkelsche Theoriebildung entlang der Ethno-Methoden der Akteure bilden die Grundlagen einer Anthropologie, deren Symmetrisierung von menschlichen und nicht-menschlichen Elementen entlang des heuristischen Programms des „Follow-the-Actors“ der Akteur-Netzwerk-Theorie theoretisch erschlossen werden soll.

·         Genese: Die Archäologie analysiert aufgrund umfangreicher Vorarbeiten der Materialgewinnung materielle Relikte, insbesondere Bilder und Artefakte aller Art, als Ausdruck sozialer Praktiken, Wissensordnungen und religiösen Vorstellungen – teils mit teils ohne Bezug zur Schriftlichkeit. Diese Methodik setzt bereits ein bestimmtes Verständnis der materiellen Dinge voraus, das sie als kulturhistorische Quellen erschließen kann. So nutzt der französische Archäologe Eric Boëda die Technikphilosophie Gilbert Simondons, um die Genese technischer Objekte zu beschreiben. Der Begriff der Genese wird jedoch nicht nur bezüglich der Entstehung technischer Objekte behandelt, sondern auch als Methode in der genetischen Phänomenologie, um den Zusammenhang von Leibpraxis und Erfahrungsweisen aufzuklären (Husserl) und um das Verhältnis von Form und Materie zu reflektieren (Simondon).

·         Kognition: Die philosophische Reflexion der Phänomenalität materieller Dinge soll schließlich die kognitiven und epistemologischen Voraussetzungen sowie ihre Konsequenzen im Umgang mit technischen und nicht-technischen Objekten behandeln. Der kognitive Zugriff mittels technischer Objekte wirkt sich zudem auf das konkrete leibliche Verhältnis des Subjekts zur Welt und zu sich selbst aus. Der leibliche Umgang mit Materialität wird in Fragen des Neuroenhancement ebenso relevant wie im alltäglichen leiblichen Verhalten des Menschen in virtuellen Netzwerken: Dort werden technische Objekte zu künstlichen Organen, deren Existenz die Reichweite des Körpers virtuell erweitert (im Gegensatz zu mechanischen Werkzeugen, die einen aktuell-materiellen Anknüpfungspunkt erfordern) und zwingen das menschliche Subjekt in neue Handlungszusammenhänge. Die klare Trennung zwischen Subjekt und Objekt wird dadurch in Frage gestellt. Den theoretischen Ausgangspunkt liefert die Reflexion auf die aus dem „4-E-Ansatz“ stammende Verhältnisbestimmung zur Welt und zu den Dingen als extended, embedded, embodied und enactive.

Die Sommerschulen widmen sich der Wechselwirkung zwischen materiellen Dingen und epistemischen Leistungen. Sie untersuchen nicht nur, wie Artefakte Wissen gestalten und systematisieren, sondern auch, wie Dinge in Diskurse einbezogen werden. Das Ineinandergreifen der unterschiedlichen Disziplinen hebt auf eine konkrete, interdisziplinäre Anthropologie ab, die im Ausgang von den Dingen entwickelt wird.

Neben der historisch situierten und an empirischen Daten orientierten Methodik der Archäologie und der Ethnologie, wird gleichzeitig die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Anthropologie überhaupt gestellt. Der bewusste Rückgang auf vorschriftliche historische Perioden und der Zugang über materielle Dinge, die erst in Praxiszusammenhängen Bedeutung gewinnen, fordert die Philosophie heraus, die Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinung, der Kognition und der Genese technischer und nicht-technischer Objekte zu untersuchen.

*