Von russischer Bürokratie, georgischen Gedichten und langen Zugfahrten
Jonas Löfflers Forschungsreise führte nach Moskau und Tbilisi
von Jonas Löffler
Im Mai und Juni 2018 konnte ich dank der großzügigen Förderung durch „a.r.t.e.s. international – for all“ einen Forschungs- und Studienaufenthalt in Moskau und Tbilisi verbringen. Dies geschah im Rahmen meines Dissertationsprojekts „Im Zentrum der Peripherie. Musik im multiethnischen Tiflis um 1900“, das seit April 2018 am Lehrstuhl für Historische Musikwissenschaft an der Universität zu Köln verfolgt wird. In Moskau stand das Vertiefen meiner Russischkenntnisse im Rahmen eines dreiwöchigen Sprachkurses an der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) neben Forschungsarbeit und der Eruierung möglicher Quellen und Sekundärliteratur an der Russischen Staatsbibliothek im Zentrum. In Tbilisi konnte ich die reichhaltigen Bestände der Georgischen Nationalbibliothek zur Forschung nutzen und hatte darüber hinaus die Möglichkeit, mein Projekt in der „Works-in-Progress“-Reihe der American Councils bzw. des Caucasus Research Resource Centers (CRRC) und in einem Workshop zu einer Globalgeschichte des Kaukasus an der staatlichen Ilia-Universität zu präsentieren.
Zwischen Bürokratie und Alltag: Forschen und Leben in Moskau
Mein Auslandsaufenthalt verlief insgesamt sehr erfolgreich und hinterließ bleibende Eindrücke – ich konnte substantielle Fortschritte in der Arbeit an meinem Dissertationsprojekt machen, knüpfte zahlreiche fachliche und persönliche Kontakte, verbesserte meine Sprachkenntnisse und bekam spannende Einblicke in unterschiedlichste Aspekte der russischen Kultur. Letzteres, die subtilen und weniger subtilen Unterschiede in der Alltagskultur, beschäftigten mich vor allem ganz zu Beginn meines Moskau-Aufenthalts, als ich in einem Studentenwohnheim (sog. obshchezhitie) der MGU wohnte. Die bürokratischen Abläufe, die nötig waren, um dort regelkonform zu leben – das Ausstellen diverser Lichtbildausweise, das mit Stempeln bestätigte Bezahlen verschiedenster Gebühren, der Kontakt zu zahlreichen Verwaltungsangestellten mit Ableistung von mindestens 50 eigenhändigen Unterschriften – erwischten in ihrer Häufung meine auf basale Alltagssituationen ausgerichteten Russischkenntnisse eiskalt. Nachdem jedoch alle nötigen Schritte erledigt waren und mich das Sicherheitspersonal des Wohnheims zunehmend weniger skeptisch beäugte, ließ es sich gut leben und ich fühlte mich sprachlich besser gerüstet für die Komplexitäten des russischen Alltags. Die Situation im Wohnheim war sehr angenehm, ich hatte ein Einzelzimmer in einem größeren Wohnblock, den ich mir mit vier russischen Studienanfängern, allesamt zukünftige Diplomaten, teilte. Das Zusammenleben war interessant – wir verbrachten viele Abende bei Tee und Kartenspiel und zahlreichen (teils auch politischen) Diskussionen.
Mein Alltag in Moskau war vor allem geprägt vom täglichen Sprachunterricht. Ich wurde in das höchste Sprachlevel eingestuft, was mich zu Beginn vor einige Herausforderungen stellte, sich aber bald als großes Glück herausstellte, weil die zwar etwas betagte, aber sehr energische Dozentin – gewissermaßen die Perle des Instituts – auf einen enormen Erfahrungsschatz zurückgreifen konnte und ich viel von meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen, die sprachlich zum Teil wesentlich weiter waren als ich selbst, lernen konnte. Insgesamt war es mir am Ende möglich, alle möglichen Alltags- und Bibliothekssituationen problemlos zu meistern sowie alle für mich relevanten Texte (auch historische) zu lesen. Die zwei Tage in der Woche, an denen ich nur reduzierten Sprachunterricht hatte, sowie das Wochenende verbrachte ich in der Regel in der Staatsbibliothek, deren etwas komplizierte und nicht selbsterklärende Funktionsweise – verschiedenste Stempel, eigenhändige Unterschriften und Kontrollzettel standen auch hier im Mittelpunkt – ich mir auch zunächst selbstständig erschließen musste. Die Bestände der Bibliothek und die wenigstens größtenteils vorhandene Hilfsbereitschaft der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren für mich sehr nützlich. Neben einem großen Bestand an Reiseführern von Tiflis während meines Untersuchungszeitraums waren es (unerwarteterweise) vor allem rechtliche Unterlagen, insbesondere Gründungsurkunden und Statuten verschiedener musikalischer Vereine der Stadt, die in der Bibliothek einzusehen und für mich sehr interessant waren. Neben Primärquellen fiel mir auch viel russischsprachige Sekundärliteratur in die Hände, die in Deutschland oft relativ schwer zugänglich ist. Auch außerhalb meiner professionellen Tätigkeiten erlebte ich Moskau als eine sehr beeindruckende Stadt, die sich in den letzten Jahren extrem verändert hat (ich war zum letzten Mal 2011 in Moskau). Es war durchaus bemerkbar, dass sich die Stadt auf die nahende Fußballweltmeisterschaft vorbereitete und die vorher weniger schmucken Teile der Innenstadt auf Hochglanz poliert wurden. Besonders in Erinnerung blieben mir außerdem zwei Besuche in der Banya, den Sandunovskie Bani, die mich den Alltagsstress vergessen ließen und einen interessanten Einblick in die Freizeitgestaltung wohlhabender russischer Männer boten.
Mit dem Zug von Moskau in den Kaukasus
Nach drei nicht unanstrengenden, aber enorm lohnenden Wochen in Moskau machte ich mich am 1. Juni mit dem Zug auf in Richtung Kaukasus. Die Fahrt in den Kurort Naltschik, am Fuße des Elbrus gelegen, dauerte 36 Stunden. Sie führte vorbei an den beiden größeren Städten Woronesch und Rostow am Don, war landschaftlich zwar nicht besonders abwechslungsreich, aber durchaus sehr reizvoll, insbesondere, was die Region um Rostow betrifft – unvergessen bleibt der Sonnenuntergang bei Nowotscherkessk, dem Hauptort der Don-Kosaken, der die Wiesen und Kreidefelsen in ein wunderschönes Licht tauchte. In meinem Abteil führte ich einige interessante Gesprächen mit meinen Reisegenossen. Besonders im Gedächtnis blieb mir das Gespräch mit einem tschetschenischen Vater und seiner Tochter, die beide in Rostow medizinisch behandelt wurden. Tschetschenien und insbesondere Grosnyj ist laut den beiden eine nicht mehr lange zu umgehende touristische Destination, der autoritär herrschende Präsident Kadyrow sei außerdem ein netter Kerl, den man öfter mal auf der Straße beim Stadtbummel antreffe.
Angekommen in Naltschik, wo ich einen eintägigen touristischen Aufenthalt in den Bergen eingeplant hatte, beeindruckte mich zunächst die sprachliche Vielfalt, die dem Kaukasus seinen Namen („Berg der Sprachen“) gegeben hatte. Während im Zug neben Russisch vor allem Tschetschenisch gesprochen wurde, sprachen die Einheimischen am Bahnhof die nordwestkaukasische Sprache Kabardinisch – abgeholt wurde ich aber von turksprachigen Balkaren, die mich in ihr Bergdorf Eltyubyu, etwa 50 Kilometer von Naltschik, brachten. Dort angekommen wurde ich fürstlich mit selbst produzierten Lebensmitteln bewirtet und genoss während einer kleinen Wanderung die atemberaubende Natur und eine kleine mir aufgezwungene Flasche Wodka im örtlichen Folkloremuseum. Am nächsten Tag fuhr ich zurück nach Naltschik, wo ich ausgiebig durch den Kurpark spazierte und am Nachmittag schließlich mit dem Taxi ins 1,5 Stunden entfernte Wladikawkas fuhr. Dort organisierte ich zunächst meinen Weitertransport nach Tbilisi am nächsten Morgen und quartierte mich in mein Hotel ein. Von Wladikawkas aus fuhr ich dann am nächsten Morgen mit einem ossetischen Fahrer – die fünfte Sprache, die ich in zwei Tagen hörte – die gesamte georgische Heerstraße, die historisch wichtige und bis vor etwa 30 Jahren einzige Verkehrsverbindung durch den Zentralaukasus, bis nach Tbilisi – ein lange von mir gehegter Traum. In Tbilisi traf ich meinen Vermieter und musste mein auf russische Konversation eingestelltes Gehirn mit einem Mal auf Georgisch (bzw. eine Mischung aus Russisch und Georgisch) umschalten.
Arbeitsreiche Wochen in Tbilisi
Die verbliebenen zwei Wochen in Tbilisi gestalteten sich sehr arbeitsreich: Meine zwei Vorträge wollten vorbereitet sein, gleichzeitig wollte ich so viel wie möglich vom örtlichen Material- und Kenntnisreichtum profitieren. So verbrachte ich praktisch jeden Tag in der Nationalbibliothek, las Zeitungsbände und reproduzierte zahlreiche Quellen für die spätere Lektüre in Köln, darunter einige seltene Gedichtbände des 19. Jahrhunderts, die spannende Quellen der so genannten städtischen Folklore von Tiflis darstellen. Meine beiden Vorträge in Tbilisi waren beide am selben Tag, was einige logistische Kniffe verlangte. Letztendlich verliefen sie aber beide sehr gut, wurden durchweg positiv aufgenommen und mündeten jeweils in eine lange und fruchtbringende Diskussion. Insbesondere in dem von Prof. Tilmann Kulke (Staatl. Ilia-Universität Tbilisi) organisierten Workshop „Towards a Global History of the Caucasus“ konnte ich viele interessante und wichtige Kontakte mit einschlägigen Forscherinnen und Forschern knüpfen.
Vielen Dank abschließend für die großzügige Förderung durch „a.r.t.e.s. international – for all“, die meinen Studienaufenthalt in Moskau und Tbilisi ermöglicht hat – ein Aufenthalt, der für den fruchtbaren und produktiven Fortgang meines Projekts sehr wichtig war.