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Dissertationsprojekt von Lorenzo Gineprini

“The Kerner Incinerator”, in: The Architect and Engineer, San Francisco Public Library/Internet Archive Book Images, 1920

Die Ästhetik des Weggeworfenen: Abfall als Mittel zum ästhetischen und politischen Dissens (Arbeitstitel)

Welche Rolle spielt die Ausschließung des Abfalls aus dem Bereich der Wahrnehmung zur Konstituierung soziopolitischer sowie ökonomischer Strukturen der Konsumgesellschaft? Und was geschieht, wenn der aus dem Lebensumfeld verdrängte Abfall künstlerisch sichtbar gemacht wird? Die meisten Studien über Konsumsphäre und materielle Kultur konzentrieren sich auf Wahrnehmung und Bedeutungsvermögen der neuen Waren; dagegen möchte ich das Phänomen Abfall untersuchen, um damit ein tieferes Verständnis des Konsumsystems sowie neue Mittel zu seiner Kritik zu gewinnen.

Die Dissertation greift auf eine marxistische Deutungslinie des Abfallphänomens (Marx, Benjamin, Anders, Bataille) sowie auf zeitgenössische Positionen des New Materialism und der Material Cultural Studies (Bennett, Alaimo, Reno, Moisi) zurück. Anhand derer wird ein historisch-materielles Verständnis von Abfall entwickelt, um diesen nicht als abstrakten Rest einer epistemologischen Klassifizierung, sondern als Produkt einer konkreten Verwerfung auszudeuten.

Aus der Erforschung kapitalistischer Aussonderungsmechanismen resultiert, dass Entwertung und Wegwerfen von Waren keine Fehlfunktion oder Nebenwirkung der Warenwirtschaft darstellen, sondern den unsichtbar gemachten Angelpunkt ihrer Reproduktionsstrategie. Die Dissertation fokussiert sich vor allem auf die Entfernung des Abfalls aus dem visuellen Alltag, um mittels Jacques Rancières Theorie die politische Bedeutung dieses ästhetischen Phänomens herauszustellen. Die Unsichtbarmachung des Abfalls wird als Teil der „Aufteilung des Sinnlichen“ der Konsumgesellschaft verstanden, d. h. der Bestimmung eines normierten Felds des Sichtbaren, auf das sich die ökonomische und politische Ordnung gründet.

Auch einmal aus dem Wahrnehmungsfeld als bedeutungs- und funktionslos verbannt, ist der Abfall jedoch nicht materiell erschöpft; er kann hingegen noch Auswirkungen zeitigen und neue Bedeutungen generieren. Anhand des Close Reading zweier Kunstwerke (Le Plein von Arman und Too Too – Much Much von Hirschhorn) wird analysiert, wie die künstlerische Sichtbarmachung des Abfalls und die Forderung nach einer sinnlichen Auseinandersetzung damit ästhetischen und politischen Dissens bewirkt. Dies destabilisiert vertraute Wahrnehmungsweisen und Strukturen der Erfahrung, initiiert eine neue Aufmerksamkeit auf die Realität und eröffnet daher politische sowie ökologische Fragen.

 

Kurzbiografie

Lorenzo Gineprini studierte Philosophie an der Università degli Studi di Torino, an der Eberhard Karls Universität Tübingen und an der Freien Universität in Berlin. In seiner Bachelorabschlussarbeit (Turin) entwickelte er eine philosophische Lektüre des Unheimlichen in den Filmen von David Lynch. Die dissensuellen Potenzialitäten des Kinodispositivs vertiefte er weiter sowohl in Artikeln für Fachzeitschriften als auch in Rezensionen für Tageszeitungen. Für seinen Masterabschluss (Berlin) erforschte er das öko- und gesellschaftskritische Potenzial künstlerischer Bearbeitungen des Abfalls. Nach einem Stipendium zur Promotionsvorbereitung im Wintersemester 20/21 bei der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne ist er seit April 2021 Stipendiat bei derselben Graduiertenschule. Sein Dissertationsprojekt wird von den Professoren Thiemo Breyer (Philosophie) und Christian Spies (Kunstgeschichte) betreut. Seine Schwerpunkte sind Ästhetik, Kunst- und Kinophilosophie des 20. Jahrhunderts sowie Material Culture Studies, insbesondere Waste Studies.

Lorenzo Gineprini ist Teil der a.r.t.e.s. Reading Group “Environmental Humanities“, die sich seit Herbst 2020 regelmäßig auf Zoom trifft. Bei Interesse kontaktiert mich gerne unter der genannten E-Mailadresse.

 

Kontakt

lorenzo.gineprini94(at)gmail.com

 

Publikationen

“Uncanny”, in: International Lexicon of Aesthetics, (in Planung) Mai 2022

“L'utopia egoista di David Lynch: una ribellione contro i limiti della realtà”, in: Philosophy Kitchen, Issue 10, April 2019

“Il cinema di Michael Haneke. La visione negata”, in: Agalma, Issue 35, April 2018

 

Vorträge

“Eine phänomenologische Untersuchung des Abfalls“, (in Planung) November 2022, Vortrag bei der Tagung der deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung “Zurück zu den Sachen selbst”

“Ästhetik und Phänomenologie des Weggeworfenen“, 24.11.2021, Projektpräsentation beim Forschungskolloquium “Phänomenologische Werkstatt“ am Husserl-Archiv Köln

“Rethinking Consumer Waste Production during and after the Corona Crisis”, 16.09.2021, Vortrag bei der 2021 Cambridge AHRC International Conference “Across Distance”

“Rethinking Material Consumer Culture and Ecology through the Aesthetics of Waste”, 25.06.2021, Vortrag bei der Konferenz “Decolonising Degrowth Conference: From Sustainability to Climate Justice” des Centre for Culture and Ecology, Durham University

 

Auszeichnungen

Auszeichnung der Mostra del Cinema di Pesaro für die beste Kinokritik (2019)