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Dissertationsprojekt von Janina Meissner

Autobiographische Komplizenschaft – zur Beziehung zwischen Exilautobiograph*innen und ihren (impliziten) Leser*innen (1933-1945) (Arbeitstitel)

Wie lässt sich die Beziehung zwischen Autobiograph*innen und Leser*innen im Exil beschreiben? Mit welchen textuellen Strategien schaffen Autobiograph*innen eine komplizenhafte Verbindung zwischen erzählendem Ich und (impliziten) Leser*innen? Welche Bedeutung haben (implizite) Leser*innen für die Konstitution von Subjektivität im autobiographischen Text?

Angetrieben von diesen Leitfragen untersuche ich vier Exilautobiographien aus den dreißiger und vierziger Jahren: Walter Benjamins Berliner Kindheit um 1900 (1932/33-1938), Charlotte Salomons Leben? Oder Theater? (1940-1942), Louise Straus-Ernsts Nomadengut (1941-1942) und Sebastian Haffners Geschichte eines Deutschen (1939).

Im ersten Teil meiner Arbeit entwickle ich ein Analysekonzept, welches es mir ermöglicht, autobiographische Texte als Subjektivationspraxis zu erfassen. Autobiographische Akte sind performativ (Watson/Smith), durch sie wird Identität und Subjektivität produziert; sie können normative Identitätszuschreibungen bestätigen oder unterlaufen, indem sie als Gegenrede fungieren. Als ‚Selbsttechnik‘ (Foucault) sind sie zudem eine Möglichkeit des Subjekts an seiner eigenen Konstitution mitzuwirken.

Wenn man Subjekte als relational und Autobiographien als Subjektivationspraxis begreift, dann sind (implizite) Leser*innen entscheidender Faktor bei der Konstitution autobiographischer Subjektivität. Eine solche Herangehensweise lenkt das Augenmerk auf die kommunikationstheoretische und wirkunsästhetischen Dimension des autobiographischen Akts, zu der neben der Analyse der narrativen Strategien des Autor*innen/Leser*innen-Verhältnisses auch der Einbezug des individuellen und historischen Kontexts, der ‚Schreibszene‘ (Campe, Stingelin), ausschlaggebend ist. Die Schreibszene ‚Exil‘ schafft gesonderte Rahmenbedingungen, die ich in meiner Arbeit theoretisch erfassen möchte. Dazu gehören u.a. der Verlust einer Leserschaft, die eigene (oft auch untergetauchte) Existenz als Fremde in der Fremde und der Einfluss nationalsozialistischer Fremdzuschreibungen und Hassreden. Autobiographien reagieren auf und vermitteln dieses historische Kontextwissen; die Schreibszene ist somit entscheidender Bestandteil der autobiographischen Kommunikation. Vor allem im Kontext von Zensur und Totalitarismus ist die autobiographische Wirklichkeitskonstruktion auch ein Mittel, Vereinnahmung von Identitäten und Geschichte zu unterlaufen und Deutungsmacht für sich zu beanspruchen. Leser*innen werden somit zu Mitwisser*innen „disqualifizierten Wissens“ (Foucault).

 

Kurzbiografie

Janina Meissner studierte Germanistik und Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Paris X Nanterre la Défense. Im Anschluss absolvierte sie ein  Zusatzstudium für Deutsch als Fremdsprache an der Universität Gent, Belgien. Danach übernahm sie verschiedene Lehraufträge an der Universität Gent und in der Erwachsenenbildung. Seit April 2019 promoviert sie an der a.r.t.e.s. Graduate School im Fach Deutsche Philologie. Die Arbeit wird betreut von Prof. Dr. Nicolas Pethes (Universität zu Köln) sowie Dr. Marleen Rensen und Prof. Dr. Nicole Colin (Universiteit van Amsterdam). Als EUmanities-Fellow wird sie ihre Mobilitätsphase von Januar 2020 bis Dezember 2020 an der Universität Amsterdam verbringen. Geplant ist auch ein Forschungsaufenthalt am King’s College London Ende 2020.  

 

Vorträge

„On the Autobiographer/Reader Relationship in Exile”, Juni 2020, XII IABA Turku 2020: Life-Writing: Imagining the Past, Present and Future, Turku (Finnland).

„Luise Straus – Erzählungen und Reportagen, November 2019, Hoffnung Europa: Exilliteratur 1939/2019, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sanary-sur-Mer (France).

„Walter Benjamins Tagebücher“, September 2019, 26. Deutscher Germanistentag, Saarbrücken. 

„Das widerständige Potential der Gattung ‚Autobiographie‘“, Juni 2019, Jahrestagung der Gesellschaft für Exilforschung: Exil(e) und Widerstand, Frankfurt Oder.

 

Titelbild: Collectie Joods Historisch Museum, Amsterdam (© Stichting Charlotte Salomon)