Dissertationsprojekt von Denise Hübner
Nomen im Nuristani (Arbeitstitel)
Die Nuristani-Sprachen sind ein eigenständiger, separater Zweig des Indoiranischen, einem Hauptzweig der indogermanischen Grundsprache. Neben dem Nuristani gehören auch die beiden deutlich größeren Gruppen, das Indoarische und das Iranische, zur indoiranischen Sprachfamilie. Zu den indoarischen Sprachen gehören unter anderem das Vedische (ca. 1100 – 500 v. Chr.) und das Klassische Sanskrit (500 v. Chr. – 500 n. Chr.), das Prakrit (500 – 1100 n. Chr.) und die neuindischen Sprachen Hindi-Urdu und Bengali. Das Iranische spaltet sich nochmals in das Ost- und Westiranische auf. Zum Ersteren gehören das Altavestische (1000 – 750 v. Chr.), das Jungavestische (750 – 500 v. Chr.) und die neuostiranischen Sprachen, wie das Paschto; zum Letzteren zählen vor allem das Altpersische (550 – 350 v. Chr.) und die neuwestiranischen Sprachen Ossetisch und Kurdisch. Die Nuristani-Sprachen wurden ehemals Kafiri-Sprachen, d.h. die „Sprachen der Ungläubigen“, genannt. Diese Bezeichnung zu gebrauchen, gehört es heutzutage zu vermeiden, denn die Mehrheit ihrer gleichnamigen Sprecher, die Nuristani, verstehen sich als fromme Muslime. Es gibt rund 100.000 Sprecher. Der Großteil der Nuristani lebt im Nord-Osten Afghanistans, nur wenige Tausende leben in ein paar angrenzenden Tälern in Pakistan. Die afghanische, abgeschiedene Bergregion Nuristan ist an den Südhängen des Hindukusch gelegen und durch schmale u- oder v-förmig ausgeschnittene Täler gekennzeichnet. Sie erstreckt sich über 12.500 km². Diese isolierte Lage kann mitunter erklären, wieso sich dort bis zur Zwangsislamisierung 1895/96 eine lokale polytheistische, d.h. vorislamische, Kultur erhalten konnte. Ein Teil dieser archaischen Kultur, die der vedischen Religion ähnlich zu sein scheint, erhält sich teils noch in den Sitten und Gebräuchen der Nuristani.
Im Zuge der Zwangskonvertierung wurde die vorher als Kafiristan („Land der Heiden“) bekannte Region in Nuristan („Land des Lichts“, d.h. die Erleuchtung durch den Islam) samt ihren Einwohnern umbenannt. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts ist Nuristan eine eigene Provinz Afghanistans. Es gibt fünf eigenständige Nuristani-Sprachen, die in sich selbst in verschiedene dialektale Varianten zerfallen: Kati, Prasun, Kalaṣa-alā, Tregami und Aṣkun. Die interne Klassifizierung der Nuristani-Sprachen ist mindestens ebenso problematisch, wie ihre Genese und ihre konkrete Stellung innerhalb des Indoiranischen. Keine der Nuristani-Sprachen entwickelte ihre eigene Schrift und nicht von jeder Sprache gibt es überhaupt schriftliche Quellen aus den raren Feldforschungsunternehmungen. Aus dem vorhandenen Textcorpus zum Nuristani jedoch lässt sich Grundlegendes an Lexik und Grammatik extrahieren, sowohl für die Einzelsprachen, als auch potentiell für ein Ur-Nuristani, dem gemeinsamen Vorläufer der einzelnen Nuristani-Sprachen, dessen Beziehung zum Indoiranischen von höchstem Interesse ist.
Dieses Promotionsprojekt zielt darauf ab, zunächst die Nominalflexion inklusive Kasus, Numerus und Genus und ggf. weiteren periphereren Kategorien in den Nuristani-Sprachen systematisch aus den synchronen Belegen zu erschließen, Stammklassen zu erstellen und diese vergleichend miteinander zu analysieren. Mittels bewährter interner und externer Rekonstruktionsmethoden soll daran anschließend ein Teil einer historischen, diachronen Formenlehre eines Ur-Nuristani rekonstruiert werden, nämlich das Nomen im Nuristani.
Kurzbiografie
Denise Hübner studierte an der Universität zu Köln Deutsche Sprache und Literatur und Linguistik und Phonetik im Bachelor. Ihren Einfach-Master in Historisch-Vergleichender Sprachwissenschaft absolvierte sie an der Universität zu Köln in Kooperation mit der Abteilung für Keltologie der Universität Bonn. Während ihres Masters war sie Teilnehmerin des a.r.t.e.s. Research Master-Programms. Sie arbeitete als Studentische und Wissenschaftliche Hilfskraft und Tutorin am Institut für Linguistik, Abt. Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft. Zurzeit ist sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Datenmigrationsprojekt der Philosophischen Fakultät der Universitäts- und Stadtbibliothek Köln angestellt. Ihr derzeitiger Arbeitsplatz befindet sich in der Altertumskunde. Seit April 2018 ist sie Kollegiatin bei der a.r.t.e.s. Graduate School und besucht die Forschungsklasse 2. Ihr Dissertationsprojekt zum Nomen in den Nuristani-Sprachen wird von Prof. Dr. Eugen Hill (Köln) und von Prof. Dr. Almuth Degener (Mainz) betreut.
Kontakt: huebnerd(at)uni-koeln.de
Titelbild: Die Region Nuristan in Afghanistan. Bildcredit: By علیزی - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=55025363 // Portraitfoto: Patric Fouad