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Forschungsprojekt von Dr. Erik Norman Dzwiza-Ohlsen

„Philosophie der Demenz. Phänomenologisch-psychopathologische Beiträge“

Die gegenwärtige Forschung in Medizin und Psychologie ist allzu oft einseitig ausgerichtet, denn sie folgt einem naturalistischen Paradigma: Komplexe Phänomene, wie insbes. psychische Erkrankungen es sind, werden dabei messbar gemacht und ihre Ursachen im Hinblick auf biologische, chemische oder physikalische Größen erklärt. Fundiert von kognitivistischen und zerebrozentristischen Modellen entstehen so tendenziell summative Definitionen davon, worum es sich bei den jeweiligen Erkrankungen handelt. Derart verliert die Forschung das aus dem Blick, was jedoch im Fokus jeder erfolgreichen Therapie stehen sollte: die lebensweltliche Erfahrung konkreter Personen.

Das wesentliche Ziel des Forschungsprojektes ist es, eine allgemeine Theorie der Alzheimer-Demenz (AD) zu entwickeln, die derartige Reduktionismen umgeht. Ihr geht es nicht darum, die großen medizinischen Fortschritte bei Diagnose und Therapie zu leugnen, sondern ein Forschungsdesign anzubieten, dass die Kluft zwischen Diagnostik und Therapeutik überbrückt. Im Zentrum dieses Ansatzes steht die lebensweltliche Erfahrung von Personen mit AD, die mit Hilfe phänomenologischer und psychopathologischer Ansätze erfasst werden soll.

Als analytischer Zugriff dient die Korrelation von Sprache und Orientierung: So sind wir in der Lebenswelt dreidimensional orientiert, nämlich nicht nur räumlich (1), sondern auch zeitlich (2) und personal (3) und können dies mit Hilfe von indexikalischen Ausdrücken (bspw. ‚ich‘, ‚hier‘ oder ‚jetzt‘) sprachlich ausdrücken. Die entscheidenden Beobachtungen sind, dass einerseits sowohl Orientierungs- als auch Sprachstörungen zu den zentralen Symptomen von AD gehören; und dass Betroffene indexikalische Ausdrücke zwar schlechter auffassen, sie aber nichtsdestotrotz vermehrt einsetzen.

Indexikalische Ausdrücke können, so die an diese Beobachtungen anknüpfende These, in diagnostischer und therapeutischer Hinsicht für AD fruchtbar gemacht werden: Im Sinne von Defizitindikatoren sind sie geeignet, um die lebensweltliche Erfahrung von Personen mit AD analytisch zu durchdringen; im Sinne von Ressourcenindikatoren sind sie aber auch geeignet, um die lebensweltliche Erfahrung von Personen mit AD therapeutisch zu gestalten. Schließlich erlaubt ihr deiktischer (= zeigender) Charakter den Rückbezug auf unsere rudimentäre, leibliche Orientiertheit und Expressivität – dabei handelt es sich um Quellen der Interaktion und Kommunikation, die im Verlauf der Erkrankung immer wichtiger werden, da die rein verbale Ausdrucksfähigkeit kontinuierlich abnimmt. 

Zwar soll keineswegs geleugnet werden, dass das Erinnerungsvermögen eine zentrale Rolle bei der Symptomatik der Erkrankung spielt; diese soll aber vielmehr in ihren vielfältigen Spielarten in ein Theoriemodell integriert werden, dass die Dynamik von Sprache, Orientierung und Gedächtnis erfasst. Derart soll im Dialog mit empirischen Erkenntnissen eine integrative Theorie der AD entwickelt werden, die auch für die Therapie von Nutzen ist.

Bspw. lassen sich in der konkreten Interaktion der Personen in ihrer Umwelt zahlreiche Chancen für therapeutische Ansätze erkennen, wenn grundlegende begrifflichen Verständnisse erweitert werden: (1) Ein erweiterter Sprach- und Ausdrucksbegriff führt dazu – der auch den leiblichen und gestalterischen Ausdruck berücksichtigt, wie bspw. Gestik, Mimik oder Berührung einerseits und Musik, Tanz oder Architektur andererseits –, dass wichtige Ressourcen für die zwischenmenschliche Interaktion gezielter als bisher beachtet werden können. (2) Ein erweiterter Orientierungsbegriff führt dazu, die Lebensumwelt der Betroffenen spezifisch zu gestalten, indem bspw. persönliche Gegenstände (zeitliche und soziale Orientierung) in eine übersichtliche und helle Wohnumgebung (räumliche Orientierung) eingebettet werden. (3) Schließlich führt ein erweiterter Gedächtnisbegriff dazu, dass bspw. habituelle Praktiken, die als selbstverständliche Basis unser Leben regulieren und oft bis in späte Phasen der Demenz erhalten bleiben (wie bspw. Fertigkeiten und Überzeugungen), unter Berücksichtigung der jeweils konkreten Biographien gezielt aktiviert werden können.

Mit dieser Verschränkung von analytischer und therapeutischer Perspektive bei der gezielten Integration von medizinischen, psychologischen und soziologischen Einsichten in eine philosophische Rahmentheorie, sollen Forschung und Therapie wieder stärker einander angenähert werden, um einer der größten gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft humaner zu begegnen.

Ein derartiger Ansatz hat dabei einen wichtigen, emanzipatorischen Effekt: Er soll der einseitigen Tendenz entgegenwirken, das Leben mit Demenz zu perhorreszieren. Anstatt es Personen mit AD noch schwerer zu machen, indem sie als defizitäre Menschen sozial isoliert werden, sollten alle Akteure in der konkreten Lebenspraxis darauf hinwirken, dass nicht die Defizite, sondern die Ressourcen im Vordergrund stehen – damit auch Personen mit AD ein würdevolles Leben führen können.