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Dissertationsprojekt von Karolin Kupfer

Geschwindigkeitsnarrative – Zeitdiagnose, Kulturkritik und der deutschsprachige Gegenwartsroman (Arbeitstitel)

In den vergangenen Jahren ist eine kaum noch zu überblickende Zahl an gegenwartsdiagnostischen Texten erschienen, die – mal in endzeitlicher Metaphorik, mal mit nüchtern analytischem Ton – das zentrale Problem von ‚spätmoderner‘ Gesellschaft, Subjektivität und entsprechendem Gefühlsleben im krisenhaften Zeitregime der Gegenwart verorten. Insbesondere wird dabei auf problematische Geschwindigkeitserfahrungen abgehoben: Einerseits, so die insbesondere vom Jenaer Soziologen Hartmut Rosa prominent und auch in den Literaturwissenschaften breit rezipierte These, entstünden als lähmend und langsam erfahrene Desynchronisationserscheinungen zwischen unterschiedlich ‚beschleunigten‘ gesellschaftlichen Teilbereichen. Andererseits klappe die Zeit in Konsequenz einer sich selbst antreibenden Beschleunigungsdynamik in eine radikal selbstreflexive Jetztzeitigkeit zusammen, die die sinnstiftende Funktion von Vergangenheit und Zukunft zersetze, menschliche Handlungsmacht unterlaufe und insbesondere auch das Erzählen verunmögliche.

Gerade weil jene Gegenwarts- bzw. Zeitdiagnosen einen universalen Geltungsanspruch für sämtliche gesellschaftlichen Bereiche und die kulturelle Semantik beanspruchen, sind funktionale Zugriffe auf das Feld der Literatur keine Seltenheit: Die Lektüre literarischer Texte wird als ‚Entschleunigungsinsel‘ romantisiert oder es wird en passant eine allgemeine Beschleunigung oder Entzeitlichung von Erzähl- bzw. Schreibverfahren postuliert. Umgekehrt scheint gerade die hybride ‚Gattung‘ der Zeitdiagnose für die literaturwissenschaftliche Rezeption gegenwartsliterarischer Texte ausgesprochen attraktiv und anschlussfähig zu sein. Die Wechselbeziehungen zwischen den Wissensformen von (Gegenwarts-)Literatur, Literaturwissenschaft und Zeitdiagnostik sind bislang jedoch kaum systematisch in den Blick genommen worden. Unreflektiert bleibt bei der Deutung gegenwartsliterarischer Texte vor der zeitdiagnostischen Folie so etwa zumeist, dass besagte nicht-literarischen Beiträge zum Beschleunigungs- bzw. Geschwindigkeitsdiskurs selbst vielfach mit tradierten (kulturkritischen) Topoi und Metaphern arbeiten und dabei nicht selten auffallend narrativ verfahren.

Mein Dissertationsprojekt versucht diesem Missstand entgegenzuwirken, indem es literarische und nicht-literarische Geschwindigkeitserzählungen miteinander ins Gespräch bringt. Zum einen richtetet es den Blick auf (implizite) erzähltechnische, intertextuelle und metaphorologische Strukturen des zeitdiagnostischen Beschleunigungs- bzw. Geschwindigkeitsdiskurses sowie auf dessen argumentative Nutzbarmachung der Literatur. Zum anderern wendet sich das Projekt der oftmals als charakteristisch hervorgehobenen Erzählgattung jener Moderne zu, die nun vermeintlich in die Zeit-Krise geraten ist: dem Roman. In den Blick genommen wird dabei ein Korpus von deutschsprachigen Romanen, die Gegenwartsverweise und Gegenwärtigkeit zuvorderst durch eine stofflich, motivisch, narrativ oder semiotisch angelegte Pluralisierung und Problematisierung von Geschwindigkeit(en) herstellen und erzeugen. Dabei geht mein Projekt insbesondere auch der Beobachtung nach, dass Gegenwarts- und Zeitreflexion in den untersuchten Romanen unlösbar an eine ästhetisch-affektive Dimension der Geschwindigkeitserfahrung gekoppelt ist, die in den teils widersprüchlichen ‚Eigenzeiten‘ von Langeweile, Trägheit, Gewalt oder Rausch ihren Ausdruck findet. Das Projekt schlägt vor, jene ästhetisch-affektive Dimension der Zeit- bzw. Geschwindigkeitserfahrung nicht auf jeweils stofflich verarbeitete ‚Zeitpathologien‘ zu verkürzen. Vielmehr ist festzustellen, dass die untersuchten Texte die Pathologiebefunde der Gegenwartsdiagnostik in genuin poetische, formalästhetische und bzw. oder selbstreflexiv poetologische Formen überführen.

Kurzbiographie

Karolin Kupfer (geb. 1994) studierte Germanistik und Komparatistik (B.A.) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Modern Languages (MSt) am St John’s College, University of Oxford. Während ihres Studiums arbeitete sie als Übersetzerin und Kommunikationsassistentin für die Akademie der Künste der Welt/Köln. Seit April 2020 ist Karolin Kupfer a.r.t.e.s.-Promotionsstipendiatin im Integrated Track. Ihr Promotionsprojekt wird von Prof. Dr. Nicolas Pethes (Köln), PD Dr. Andrea Schütte (FU Berlin) und Prof. Dr. Stephan Packard (Köln) betreut.

Kontakt: kkupfer(at)smail.uni-koeln.de

Publikationen

„Kampf um Emma“. Polemik und feministische Öffentlichkeiten, in: E. Dubbels/J. Fohrmann/A. Schütte (Hg.): Polemische Öffentlichkeiten. Zur Geschichte und Gegenwart von Meinungskämpfen in Literatur, Medien und Politik, Bielefeld 2021, S. 141–164.

Vorträge

„Essen, Trinken, Internet“. Von der Un/Möglichkeit der Faulheit in Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent, gehalten im Rahmen der 5. Berkeley-Yale-Cologne Summer School “Aesthetic Possibilities: Literature, Rhetoric, Philosophy” zum Thema “I would prefer not to.” – Negation, Verweigerung, Verzögerung, 22. Juli 2021, Köln.

Lehre

Gegenwart – Gegenwartsliteratur – Gegenwartsliteraturforschung, Proseminar, WS 2021/22, Universität zu Köln.

Sonstiges

Projektkonzeptionelle Assistenz für Exophony:, Programmreihe der Akademie der Künste der Welt/Köln, Köln 2019/20.

Projektassistenz Presse- u. Öffentlichkeitsarbeit für Digging the Global South. Festival for Experimental Electronic Music from Africa and its Diaspora, Kurator: Thomas Gläßer / Zentrum für aktuelle Musik e.V., Köln 2017.