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Identität und Gemeinschaft durch „Kolá San Jon“

Musikethnologische Feldforschung in Kap Verde

von Martin Ringsmut

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Von Mai bis August 2017 war ich in São Vicente, um meine durch „a.r.t.e.s. international – for all“ finanzierte Feldforschungsreise durchzuführen. Die Insel ist Teil der Republik Kap Verde und liegt ca. 570 km westlich von Senegal im Atlantischen Ozean. Ich habe in dieser Zeit die Daten für mein Dissertationsprojekt gesammelt, welches sich mit den Festas Juninas, den katholischen Heiligenfeiertagen im Juni, und der Tradition Kolá San Jon in Kap Verde beschäftigt. Ich untersuche die Auswirkungen von Tourismus und Globalisierungsprozessen auf diese Tradition und ihre Rolle bei Vergemeinschaftungs- und kulturellen Identitätsbildungsprozessen – und zwar aus musikethnologischer Sicht. Während meiner Zeit dort habe ich mit (ausschließlich männlichen) Musikern zusammengelebt und das kapverdische Kriollu – die Hauptsprache der Inseln und eine Mischung aus Portugiesisch und mehreren afrikanischen Sprachen – so gut es ging erlernt. Darüber hinaus war ich während der gesamten Festzeit selbst als Musiker unterwegs. Grundsätzlich gibt es auch San Jon-Trommlerinnen, allerdings waren diese zur Zeit meiner letzten Reisen nach Sao Vicente nicht aktiv und standen auch nicht für Interviews zur Verfügung. Dieser Umstand allein würde schon genug für eine Dissertation hergeben.

Orientierungsphase

Während des ersten Monats traf ich meine InformantInnen und FreundInnen meiner Vorreisen wieder, gewann zwei Studentinnen für ein Kriollu-Deutsch-Sprachtandem und durchstöberte die örtlichen Bibliotheken und privaten Archive nach Literatur. Obwohl ich täglich Sprachunterricht hatte und auch allgemein den Eindruck hatte, ‚gut angekommen‘ zu sein, wurde ich gegen Ende des ersten Monats etwas unruhig. Ich hatte zwar bereits einige Interviews geführt, diese hatten nur leider – bis auf ein paar Ausnahmen – nichts mit meiner Dissertation zu tun. Ich schrieb also in mein Feldtagebuch, dass ich zwar erfolgreich meinen Alltag in Kap Verde meistere und mir sicher sein könne, die gesamte Forschungsliteratur zu meinem Thema ausfindig gemacht zu haben, aber dennoch nicht richtig ‚im Feld‘ angekommen sei. Das so in mein Tagebuch zu schreiben half mir sehr, da mir so schlagartig bewusst wurde, dass die meisten Feldforschungen – auch von erfahreneren EthnographInnen – mit denselben Problemen aufwarten.

Trommelbau und Unterricht

Im Juni konnte ich den Prozess des Trommelbaus sowohl bei einem Meisterbetrieb als auch bei zwei Laiengruppen dokumentieren. Bisher gibt es in der Fachliteratur und Filmdokumentationen zum Trommelbau der San Jon-Trommeln nur Darstellungen der Meisterkonstruktionen. Die Laientrommeln stellen allerdings den größeren Teil der verwendeten Trommeln dar und unterscheiden sich sowohl durch die verwendeten Materialien (viele Trommelbauer verwenden den Pressspan aus alten Orangenkisten) als auch durch die Konstruktionsweise von den Meisterkonstruktionen.

Während meiner ersten Reise nach Kap Verde 2016 hatte ich bereits Senior José Miranda kennengelernt, der auf São Vicente allgemein als Meistertrommler und -Konstrukteur angesehen wird. Von ihm bekam ich im Vorfeld zu den Feiertagen 2017 drei Unterrichtstunden, in denen ich die verschiedenen Rhythmusvarianten der Tambor San Jon proben konnte. Die Tambor San Jon ist das Hauptinstrument der Festas Juninas und wird in Gruppen ab drei Personen aufwärts während der Juni-Feiertage St. Antonius, St. Johannes und St. Petrus gespielt. Die Trommler spielen ihr Instrument seit ihrer Kindheit und haben es durch Abgucken, meist von ihren Vätern, gelernt. Jemandem Unterricht im Spiel der Tambor San Jon zu geben, ist daher eigentlich nicht üblich. Ich war froh, dass für mich eine Ausnahme gemacht wurde.

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Kolá San Jon

Für die verschiedenen Heiligen werden korrespondierende Trommelrhythmen gespielt, die sich jedoch von Region zu Region bzw. von Zona zu Zona (Stadtteil) unterscheiden können. Ich habe mit meinem Lehrer die verschiedenen Rhythmen in Isolation aufgenommen und im Verlauf meiner Feldforschung auch drei weitere San Jon-Spieler in Isolation aufnehmen können und somit sehr gutes Vergleichsmaterial gesammelt. Ich kann so zeigen, wie sich die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Umfeldern (Heimatdorf, Zona, Familie) im Sinne einer Sonic Community durch das Trommeln bestimmter Rhythmusvarianten äußert. Diese These habe ich mit meinen InformantInnen besprochen und im Feld getestet. Die Aufnahmen in Isolation ergeben zusammen mit den Aufnahmen während der Hauptfeiertage, bei denen ich Gruppen von etwa 15 Trommlern beobachtet habe, ein kohärentes Bild. So konnte ich eine bestimmte rhythmische Wendung auf den Einfluss einer einzelnen Familie zurückführen.

Das Phänomen Kolá San Jon ist zu vielfältig, um es hier angemessen darstellen zu können. Ich liste deshalb nur einige Aspekte der Feiern auf und hoffe, dass sich im Zusammenspiel mit den Fotos ein kleiner Einblick vermitteln lässt. Neben der katholischen Messe werden die Heiligen außerdem mit Devotionalien beschenkt. Die Trommeln zu ihren Ehren werden entweder in Gruppen vor und nach der Messe geschlagen oder aber als Teil einer San Jon-Gruppe in Begleitung von Menschen, die Holzschiffe, Schwerter und Fahnen tragen, gespielt.

Am 9. Juni konnte ich das erste Mal bei einer Feier mit San Jon-Trommeln aktiv als Musiker teilnehmen. Hier hat sich für mich deutlich der Wert von ‚teilnehmender Beobachtung‘ in musikethnographischer Forschung gezeigt: Im Gegensatz zu meiner Feldforschung 2016, wo ich lediglich als ‚Beobachter‘ an den Festen teilnahm, habe ich diesmal als Teil einer Gruppe einen tieferen Zugang zur Tradition erreichen können. Aus meiner aktiven Teilnahme ergaben sich für mich ein besseres Verständnis der musikalischen Aspekte der San Jon-Feiern, ein besseres Verständnis der körperlichen Grenzerfahrung, die Trommler während der Festas Juninas durchmachen, der kulturellen und sozialen Signifikanz der Festivitäten, der sozialen Struktur der Kap Verdischen Gesellschaft und der Organisation der beteiligten Gruppen während der Feste. Ab meinem ersten Auftreten als Musiker ergaben sich für mich mehr Interview und Spielmöglichkeiten als ich schlussendlich wahrnehmen konnte. Meine Sorgen, die mich im ersten Monat bedrückt hatten, stellten sich als vollkommen unbegründet heraus.

Vom Interviewer zum Interviewten

Zwischen dem 9. und 29. Juni war ich regelmäßig abends mit verschiedenen Trommelgruppen unterwegs und konnte in Pausen Interviews führen und weitere Filmaufnahmen machen. Die Hauptfeierlichkeiten (23.–25. Juni und 28./29. Juni) verbrachte ich trommelnd und nahm – als wäre das nicht schon genug – in diesem Zeitraum an einer Konferenz zur Entwicklung des regionalen Tourismus in São Vicente als Redner teil und knüpfte dort Verbindungen zu kapverdischen TourismusforscherInnen.

Durch mein Spielen in den Trommelgruppen wurden viele KapverdierInnen auf mich aufmerksam und sprachen mich aktiv darauf an: „Wie kommt ein Deutscher darauf, gerade diese Tradition zu untersuchen?“. Diese und weitere Fragen habe ich dann auch bei verschiedenen Gelegenheiten – u. a. Kolloquien an der Uni CV und Uni Mindelo – beantworten dürfen und wurde sogar von einem Reporter zu einem Radiointerview eingeladen und zu meiner Forschung befragt.

Die Zeit, in der die San Jon-Trommeln gespielt werden, endet informell am 5. Juli, dem Tag der Unabhängigkeit. In den verbleibenden Wochen meiner Forschungsreise interviewte ich einzelne Trommler und InformantInnen aus der Tourismusindustrie und schlossmeine Archivarbeit ab, die ich während der Festivitäten ausgesetzt hatte. Außerdem transkribierte ich mit Hilfe meiner Sprachassistentinnen erste Interviews und nutze diese dann für weitere Feedback-Interviews. Ich konnte mir auch nicht verkneifen, in dieser Zeit etlichen ‚Sidequests‘ für eventuelle spätere Projekte nachzugehen. Resümierend bin ich hochzufrieden mit meiner Forschungsreise, da ich den Großteil meines Forschungsplans umsetzen konnte und die nächsten Monate nun mit dem Auswerten meiner Daten beschäftigt sein werde.

Die Reise wurde durch DAAD-Fördermittel im Rahmen von "a.r.t.e.s. international – for all" unterstützt.

"a.r.t.e.s. international – for all" wird gefördert vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).