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Über die Chancen und Schwierigkeiten transnationaler Geschichtsforschung

a.r.t.e.s. EUmanities-Fellow Tom Menger forscht in Londoner Archiven und berichtet von seinen ganz persönlichen Erfahrungen im Auslandsjahr

von Tom Menger

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  • Die National Archives, Kew (Foto: Tom Menger)
  • Die Queen Mary University: ein alter Friedhof inmitten der modernen Campusgebäude (Foto: Tom Menger)

Das Schreiben von Geschichte wird immer internationaler. Der Trend geht zu transnationaler Geschichte – eine Geschichte, die aufzeigen soll, dass zahlreiche historische Prozesse und Akteurinnen und Akteure über nationale Grenzen hinweg operierten und miteinander verbunden waren, und zwar in viel stärkerem Ausmaß, als wir bis vor Kurzem noch dachten. Auch in der Geschichtsschreibung über die modernen westlichen Imperien, also in dem Feld, in welchem ich mich bewege, ist dieser Trend bemerkbar und es wird verstärkt trans-imperiale Geschichte geschrieben, eine Geschichte, die sich über die Grenzen einzelner Imperien hinausbewegt.

Für mich war deshalb von Anfang an klar, dass ich meine Promotion – die Geschichte der extremen Gewalt in den Kolonialkriegen des Hochimperialismus – auch anhand mehrerer Imperien schreiben wollte. Erstens, weil sich die historischen Diskussionen bezüglich kolonialer Gewalt bis hierhin stark in einem nationalen Rahmen bewegt haben, und zweitens, weil ich diese Kolonialkriege von Anfang an als ein gesamteuropäisches Phänomen einschätzte. Die Beschäftigung mit verschiedenen Fallstudien zeigt, wie ähnlich sich diese Kriege in ihren Formen – und maßgeblich auch in ihrer entgrenzten Gewalt – waren. Nach einiger Überlegung und Vorarbeit habe ich mich dann entschieden, für meine Dissertation drei Kolonialreiche zu erforschen: das britische, das deutsche und das niederländische.

Imperial History: Archivarbeit in London

Eine solche transnationale Forschung ist aber oft schwierig. Wenn man mehrere Länder oder Imperien erforschen will, heißt das generell auch, dass man (neben dem Beherrschen der jeweiligen Sprachen) in der Lage sein muss, für längere Zeit Archive in mehreren Ländern zu besuchen. Der reise- und kostentechnische Aufwand ist dementsprechend oft sehr hoch. Ich schätze mich deshalb äußerst glücklich, meinem Projekt innerhalb des a.r.t.e.s. EUmanities-Programms nachgehen zu können, in dem ein einjähriger Auslandsaufenthalt ermöglicht wird, ja sogar Pflicht ist – eine Pflicht, die ich natürlich gerne erfülle! Für mich war auch schnell klar, wohin es gehen sollte: nach London. Die Stadt beherbergt nicht nur die vielen Archive und Bibliotheken, die für die Erforschung britischer Kolonialgeschichte unerlässlich sind, sondern es findet sich dort auch die meiste Expertise auf dem Gebiet der Imperial History gebündelt – es ist natürlich kein Zufall, dass ich meinen Zweitbetreuer auch in London gefunden habe, an der Queen Mary University of London.

Nach einer relativ problemlosen Ankunft in London im Januar 2018 und einigen Monaten erster Archivarbeit zeigte sich dort dann aber ein weiteres Problem eines internationalen Forschungsprojekts: die Schwierigkeit, von vornherein die Quellenlage im Ausland richtig einzuschätzen. Zwar kann man durch die allgemein gute Katalogisierung der britischen Archive schon vorher erahnen, wie viel Material es ungefähr geben wird, aber ob dieses Material dann auch inhaltlich für die Fragestellung ergiebig ist, lässt sich nur vor Ort mithilfe längerer Sichtung feststellen. So musste ich zu meinem Leidwesen nach einiger Zeit dann auch zu dem Schluss kommen, dass die durchaus zahlreich gefundenen Quellen nicht das boten, was ich mir davon erhofft hatte. Das erforderte also erstmal ein Umdenken. Und das, obwohl ich mitten in meinem mobility year war und eigentlich die Zeit zur ausgiebigen Archivrecherche hätte nutzen müssen! Man kann sich vorstellen: Das war stressreich. Gespräche mit den zwei Betreuern und vor allem auch die etwas spontane Entscheidung, mich in der British Library mal mit einer anderen Quellengattung (mit Handbüchern für Kolonialsoldaten) zu beschäftigen, führten dann aber dazu, dass ich in relativ kurzer Zeit einen neuen Ansatz finden konnte, der dem Projekt eine neue und vielversprechende Wendung gegeben hat.

Monument in Brighton in Andenken an die britischen Gefallenen der kolonialen Expeditionen in Ägypten, 1882 und 1884-1885 (Foto: Tom Menger)

Forschungslücke: Vergleichende Fallstudien

Von der Analyse der Täter kolonialer Gewalt hat sich mein Fokus jetzt verschoben zu der Frage, wie Wissen über extreme Gewalt in den Kolonialkriegen dieser Zeit eigentlich verbreitet wurde. In der Forschung zu den Ursprüngen dieser Gewalt wurde diesem Aspekt bisher wenig Beachtung geschenkt. Dabei gilt für viele Handlungen und auch für extreme Gewalt, dass man vorher über ein bestimmtes Wissen verfügen muss, um sie erfolgreich ausführen zu können. Und solches Wissen über koloniale Gewalt, so erschließt es sich für mich immer mehr aus meinen Forschungen, zirkulierte in den Jahrzehnten um 1900 in großem Maße und oft über die Grenzen einzelner Kolonien und Imperien hinweg. Es wurde zum einen schriftlich vermittelt, über Bücher, die von einzelnen Kriegen berichteten oder allgemeine Ratschläge zur kolonialen Kriegsführung gaben. Es zirkulierte aber zum anderen auch in Form von Erfahrungswissen, getragen von verschiedenen Akteurinnen und Akteuren, die von einem Kolonialkrieg zum nächsten wanderten, von einer Kolonie zur anderen oder sogar von einem Empire zum nächsten. Auch deshalb trage ich in meiner Arbeit verschiedene Fallstudien zusammen: Dort zeigt sich, dass das Wissen und die Formen solcher Gewalt fast immer ähnlich sind, die Ursprünge dieses Wissens aber manchmal an ganz verschiedenen Orten und Zeitpunkten liegen.

Vergleichende Studien zu Empires gibt es immer noch ziemlich wenige. Das liegt, wie anfangs gesagt, erstmal an den sprach-, reise- und kostentechnischen Schwierigkeiten. Eine solche Studie impliziert aber auch einfach unvermeidlich ein außerordentlich großes Forschungsvolumen. Es gibt Tage, da erscheint mir die noch vor mir liegende Arbeit auch schon mal respekteinflößend. Aber gerade der Umstand, dass es solche Studien noch kaum gibt, diese meiner Ansicht nach aber so nötig sind, gibt mir auch immer wieder die Energie, dieses Projekt anzugehen.

London: Eine großartige Forschungsstätte

London selbst trägt wohl auch einiges zur benötigten Energie bei und zwar aus mehreren Gründen. Erstmal ist die Stadt eine großartige Forschungsstätte: Die zahlreichen Archive und Bibliotheken, die alle auch noch sehr gut organisiert und katalogisiert sind, sind eine Goldgrube für meine Forschungen. Der lange Aufenthalt bietet mir sogar die Möglichkeit, kleinere regionale Archive zu besuchen, worauf ich wohl ansonsten aus Zeitgründen hätte verzichten müssen. Zusätzlich bietet London mit seiner Vielzahl an Spitzenuniversitäten auch die Chance, sich mit dutzenden anderen Expertinnen und Experten der Imperial History auszutauschen.

Aber auch die Stadt an sich ist ein großartiges Erlebnis. Ich lebe zum ersten Mal in meinem Leben in einer Weltstadt und bin begeistert von den vielen schönen Ecken der Stadt, ihrem internationalen Flair und dem riesigen kulturellen Angebot. Für mich als Historiker ist aber auch die Präsenz der imperialen Vergangenheit im städtischen Raum enorm interessant. Auf der Straße, auf Plätzen, in Parks, sogar in Kirchen – immer wieder stoße ich auf Schrifttafeln und Monumente, die von den zahlreichen britischen Kolonialkriegen in Übersee zeugen. Das erinnert mich immer wieder daran, dass die Kriege des Hochimperialismus nicht nur ein äußerst interessantes und spannendes historisches Thema sind, sondern dass diese bis heute Spuren in der Gesellschaft hinterlassen haben – und das nicht nur in der Form von Statuen und Gedenksteinen.