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"Migration – Menschen in Bewegung"

a.r.t.e.s.-Juniorprofessor Martin Zillinger zu Gast im Allerweltshaus

von Simona Böckler

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Vom 09. bis 13. Mai 2016 fand die Veranstaltungsreihe „Wissenschaft in Kölner Häusern – Kölner wissen mehr“ der Kölner Wissenschaftsrunde an einer Reihe von Standorten in Köln statt. In diesem Rahmen war am 12. Mai auch a.r.t.e.s.-Juniorprofessor Dr. Martin Zillinger mit einem Vortrag zum Thema „Migration – Menschen in Bewegung“ im Allerweltshaus in Köln-Ehrenfeld zu Gast. Martin Zillinger, Philosoph und Ethnologe, leitet die Nachwuchsforscherinnen- und forschergruppe „Transformations of Life“ im a.r.t.e.s. Research Lab und forscht zu Migration und religiösen Erneuerungsbewegungen im euro-mediterranen Raum.

 

Was ist Migration?

Pünktlich um 18:30 Uhr wurde der Abend mit einer kurzen Einführung zu den allgemeinen Aktivitäten und aktuellen Veranstaltungen im Begegnungszentrum Allerweltshaus eröffnet. Anschließend wurde das Wort direkt an Martin Zillinger, Hauptreferent des Abends, übergeben. Dieser grenzte zu Beginn das Thema „Migration“ ein und formulierte die Ausgangsfrage des Vortrags: Was bedeutet Migration für die Menschen vor Ort und für die Migranten selbst? Angesichts der Komplexität und Vielschichtigkeit des Themas schlug Zillinger vor, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und zu untersuchen, wie Migration vor Ort zur Geltung gebracht wird:

„Migrationen sind sehr komplexe soziale Prozesse, die sowohl die Menschen in Bewegung betreffen – ‚Migrare‘ heißt ja ‚Bewegung durch den Raum, Wanderung‘ –, aber auch die nicht migrierenden Menschen, die ansässigen Menschen. Wir können heute Abend versuchen, einen Blickwechsel vorzunehmen und uns mit den Akteuren, und zwar mit unterschiedlichen Akteuren, zu beschäftigen und Migration von unten zu betrachten und zu überlegen, was das eigentlich für diese Menschen, die migrieren und auch die, die nicht migrieren, bedeutet.“

 

Grenzen, Schwellen und Kategorien

Um dem Gegenstand seines Vortrags näherzukommen, versuchte Martin Zillinger, einige Dynamiken einzuordnen, die Migration charakterisieren. Hierbei wird die zentrale Rolle von Grenzen und Schwellen, wie auch der Verschiebung von Kategorien und deren Bedeutungen im Migrationsprozess hervorgehoben:

„‚Grenzen und Schwellen‘ scheint mir ein Grundmotiv von Migration zu sein. Grenzen sollen Unterscheidungen hochhalten und Anschlüsse verhindern, Schwellen können überschritten werden und Übergänge und Anschlüsse ermöglichen. Und natürlich ist die Frage von Grenzen und Schwellen letztendlich eine Frage von Ressourcen, die geteilt, zugänglich gemacht oder entzogen werden sollen. Es gibt zum Beispiel geographische Grenzen und Schwellen, es gibt institutionelle Grenzen und Schwellen. Wie alle Schwellen und Grenzen sind auch diese nicht einfach da, sie werden eingerichtet und sie müssen erarbeitet werden. Schließlich gibt es soziale Grenzen und Schwellen. Migration selber ist ein Schwellenraum und wie alle Schwellenräume mit großen Unsicherheiten behaftet. Kategorien und Ordnungspraktiken des vertrauten Alltags greifen nicht mehr und müssen von den Menschen in Bewegung, aber auch von den sesshaften Menschen, neu erarbeitet werden. Und hierbei geht es um sehr basale Dinge: Wie verhalten sich Geschlechter im öffentlichen Raum zu einander? Welche Spiele der Blicke, der Anrede oder Abweisung werden gespielt? Was bedeutet ‚Kind sein‘ im Zuge der Migration?“

 

Problem der Transkulturation statt Problemkultur

In Zentrum dieser Reflexion standen insbesondere die Ereignisse der Silvesternacht in Köln, die einer differenzierten und aufschlussreichen Analyse unterzogen wurden:

„Wie können wir über die Geschehnisse sprechen, ohne in die Falle einer letztlich rassistischen Kulturalisierung der Ereignisse zu tappen oder sie auf eine mehr oder weniger alltägliche Form des Sexismus zu reduzieren? Bis heute finden wir nur wenige Stimmen, die das Geschehen als Teil der Transformationsprozesse begreifen, die wir zurzeit in Deutschland und im euro-mediterranen Raum erleben. Die Gesellschaften in Europa schaffen durch die hohen Hürden zu Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis keine großen Anreize, sich zu integrieren, für diese vielen jungen Männer, die klandestin in Europa unterwegs sind. Die Menschen merken schnell, dass sie sich in erster Linie auf die eigenen Kontakte verlassen müssen.

Die vielen Neuankömmlinge, die jetzt im Zuge der Grenzöffnung – aber auch schon vorher – nach Mittel- und Nordeuropa gekommen sind, verursachen also in vielerlei Richtungen Probleme: für die Gesellschaften, durch die sie sich bewegen und die verzweifelt an ihrer eigenen Kategorisierung festhalten wollen, aber auch für die gewachsenen und gut integrierten marokkanischen und marokkanisch-stämmigen Gemeinschaften in Deutschland, die auch nicht unbedingt immer wissen, was sie mit diesen jungen Männern tun sollen, die nur relativ kurzfristig hier sind.

Aus dieser explosiven Gemengelage scheint auch die Silvesternacht auf der Domplatte entstanden zu sein, wo illegale Flüchtlinge oder ansässige Migranten aus dem arabischen Raum offensichtlich aufeinander getroffen sind. Ich glaube, man sollte das Problem der Silvesternacht ernst nehmen, aber nicht als Problem einer Kultur, sondern als transkulturelles Problem einer Situation, die wir unterschätzen. Migration verunsichert die Menschen in Bewegung genauso wie die Ansässigen. Die jungen Männer, die an der Silvesternacht am Hauptbahnhof zusammengekommen sind, haben nach häufig traumatischen Erfahrungen einen Ort zum Feiern gesucht und sind – wie tausende Deutsche auch – aus ihrer Umgebung nach Köln gefahren, nachdem sie sich in sozialen Netzwerken verabredet haben. Wir müssen in Rechnung stellen, dass diese jungen Leute nicht unbedingt Erfahrung damit hatten, Silvester in Deutschland zu feiern und sich in der Silvesternacht auch irgendwie als junge Männer zu bewähren versuchten. Junge Männer unter jungen Männern, die sich auf die ganz wenigen Kategorien zurückfallen lassen, die in der Migration konstant gehalten werden können und über die sie sich zusammenfinden: ihr Geschlecht und ihr Alter. Wir unterschätzen die Verunsicherung, die entsteht, wenn sich Menschen in fremden Gesellschaften zurechtfinden müssen und sich die Regeln des Umgangs um ihre eigene Verortung neu erarbeiten müssen. Die erprobten Kategorien geraten in Bewegung, soziale Beziehungen müssen neu organisiert werden.“

 

Einblicke in die Praxis

Nach diesem theoretischen Teil wurde der Vortrag von Martin Zillinger durch Einblicke in die Praxis sehr fruchtbar ergänzt. So berichtete etwa Leonie van Dreuten, Master-Studentin der Ethnologie an der Universität zu Köln, über ihre Erfahrung aus einer Notaufnahmeeinrichtung in der Nähe von Köln. Zudem konnte abschließend eine Brücke zur Beratungstätigkeit im Allerweltshaus geschlagen werden, einem wichtigen Bereich der Arbeit des Begegnungszentrums. Heidi Käfer und Lara Collier stellten ihre ehrenamtliche Migrationserstberatung vor und erläuterten die Unterstützung, die das Allerweltshaus bei weiteren Aufenthaltsfragen bietet. Der Abend endete mit einer lebhaften Diskussion mit den Besucherinnen und Besuchern des Vortrags.